Studenten aus Frankfurt (Oder) betreiben eine bundesweit einmalige Reiseagentur: Für Vertriebene suchen sie Geburtsstätten und Gesprächspartner in Polen.
Von Irina Repke
Das einstige Rittergut seiner Eltern einmal wiedersehen, nach über 60 Jahren - das war das eine. Aber mehr noch lag Eike Jelaffke, 70, daran, mit den Bewohnern seines Geburtsortes Sorau (heute Zary) ins Gespräch zu kommen. "Doch ohne Polnischkenntnisse war daran nicht zu denken", erinnert sich der Pensionär aus Bad Pyrmont. Jelaffke wurde geholfen. Denn in Frankfurt (Oder) führen Studenten die Agentur "HeimatReise", die Polen-Touren für Vertriebene und deren Nachkommen organisiert - Kontaktaufbau und Dolmetscherdienste inklusive.
Die acht deutschen und acht polnischen Studenten oder Absolventen der Universität Viadrina verstehen sich zugleich als Reiseleiter und Detektive: Sie suchen die Geburtsstätten der Vertriebenen und vermitteln Kontakte zu den heute dort lebenden Polen - was nicht immer leicht ist in einer Zeit permanenter Kontroversen um die Vertriebenen und ständiger Spannungen zwischen Deutschland und Polen. Die Jugendlichen handeln indes als Botschafter und Vermittler beider Nationen und "gehen unkonventionelle Wege, um deutsche Vertriebene und Polen ins Gespräch zu bringen", wie Reiseleiter Mateusz Hartwich das Ziel beschreibt.
Für die Kontaktsuchenden sind die Modalitäten denkbar einfach. Dem ersten Anruf folgt meist ein Treffen in Frankfurt, bei dem "jeder uns seine Familiengeschichte erzählen, Urkunden oder Fotos mitbringen kann", erklärt die Koordinatorin Jacqueline Nießer. Weil die Kenntnisse der Deutschen über die frühere Heimat meist nur bis 1945 reichen, müssen die Studenten zunächst fast kriminalistisch recherchieren: Existiert das alte Haus noch? Wer wohnt jetzt da - mit wem kann man reden, um reinzukommen? In einer sensiblen Vorbereitung stecke der höchste Aufwand - "doch bisher hat er sich immer gelohnt", berichtet Robert Piotrowski aus Gorzów Wielkopolski, dem früheren Landsberg (Warthe), der gerade über die deutsche Geschichte seiner Heimatstadt promoviert.
Auch vor Jelaffkes "Erinnerungsreise" war der Rechercheaufwand hoch. Sein Geburtshaus, die Sorauer Frauenklinik, vom Vater schon in den zwanziger Jahren gebaut, haben die Polen inzwischen zu einem Gymnasium umgewidmet. Das einstige Rittergut der Familie samt Landhaus war zu sozialistischem Eigentum mutiert und danach herrenlos verkommen. Zeitzeugen existierten nicht, so dass sich Reise- Organisator Mateusz Hartwich an den Bürgermeister und den Schuldirektor hielt. "Zunächst erklärt man immer, dass es nicht um Besitzansprüche geht, die Deutschen nur ihren Geburtsort wiedersehen und Frieden schließen wollen mit der Familiengeschichte", sagt Hartwich. Während der Reisen komme es dann stets zu "sehr emotionalen Situationen" und zum "gemeinsamen Geschichtenerzählen".
So auch in Zary. Nachdem Schuldirektor, Schüler und Lehrer den Gast samt Betreuer begrüßt hatten, lud man zu einem Rundgang ein. Plötzlich stoppte Jelaffke: Der niedersächsische Pensionär - als Achtjähriger mit der Familie aus Sorau geflohen - stand vor seinem einstigen Spielzimmer, in dem die Schüler der Informatikklasse gerade ihren Computer starteten.
Nicht nur "HeimatReise"-Kunden wie Jelaffke, auch die beteiligten Polen erkennen den Charme der außergewöhnlichen Unternehmensidee. Alle seien sehr froh gewesen, dass "endlich der Nachfahre vom Vorkriegsbesitzer gekommen ist", berichtet etwa der Direktor des Gymnasiums in Zary, man habe sich lange schon gefragt, "was wohl früher hier war".
Es sei enorm wichtig, dass es solche neuen Ideen junger Polen und Deutscher gebe, meint Lokalhistoriker Zbigniew Czarnuch, selbst 1945 nach Vietz (Witnica) zwangsumgesiedelt. Damals hatte er wie viele junge Polen versucht, alle Spuren der Deutschen zu vernichten - Straßenschilder, Inschriften, Denkmäler. Eine persönliche Begegnung mit deutschen Vertriebenen brachte später den Sinneswandel. Seither gräbt er nach den kulturellen Wurzeln der Stadt und berät die Viadrina-Studenten bei ihren Recherchen.
Das "HeimatReise"-Büro findet indes bereits internationale Resonanz - auch dank der Kontakte mit jenen Gruppen des Bundes der Vertriebenen (BdV), die, so Jacqueline Nießer, "den Polen gegenüber nie Ansprüche erhoben haben und schon lange mit ihnen zusammenarbeiten". Schließlich sei der BdV "kein monolithischer Block".
Allerdings leiden auch Viadrina-Projekte unter der deutsch-polnischen Dauerkrise. Es sei momentan "enorm schwer", gemeinsame Veranstaltungen mit Referenten aus Polen zu organisieren, die würden "sehr stark unter Druck gesetzt", klagt Nießer. Die Anbahnung neuer Kontakte sei derzeit kaum machbar - aber was sie aufgebaut hätten, meint Piotrowski, könne keiner aus Warschau zerstören. "Wir haben", sagt der einstige Deutschenhasser Czarnuch, "die Außenpolitik selbst in die Hand genommen."
Text © DER SPIEGEL, 13.11.2006 Foto © Caroline Mekelburg